Systemisches Hypothetisieren: Ein Perspektivwechsel mit Wirkung

Systemisches Hypothetisieren: Was ist das?

Systemisches Hypothetisieren bedeutet, eine Annahme über eine Situation, ein Verhalten oder ein Beziehungsmuster zu formulieren - allerdings nicht als Wahrheit, sondern als vorläufige, neugierige Denkfigur. Diese Hypothese wird genutzt, um neue Perspektiven zu entwickeln, blinde Flecken aufzudecken und Dialog zu fördern.

Ein Schlüsselgedanke dabei: Menschen handeln nicht isoliert, sondern immer in einem sozialen Kontext. Hypothesen helfen, die Wechselwirkungen im System sichtbar zu machen.

Wozu dient das Hypothetisieren?

Hypothesen regen zu einem Wechsel der Perspektiven an. Sie unterbrechen dadurch einseitige Problemzuschreibungen ("Der Kollege ist eben schwierig") und laden dazu ein, komplexe Zusammenhänge zu erkunden. Außerdem sind sie ressourcenorientiert: Statt Schuldige zu suchen, rückt Hypothetisieren Potenziale, Bedürfnisse und bisherige Lösungsversuche in den Fokus.

 

Wann ist Hypothetisieren besonders sinnvoll?

Die Antwort auf diese Frage ist schnell gegeben: Immer da, wo Menschen zusammenarbeiten. Denn wo auch immer Menschen zusammenarbeiten, treffen unterschiedliche Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Werten aufeinander, sind Missverständnisse und Konflikte vorprogrammiert. Für Projekte und Changevorhaben gilt das umso mehr.

 

Fallbeispiele mit systemischen Hypothesen

Schauen wir uns das Thema mal in der Praxis an. Stellt Euch vor, eine neue Software wurde eingeführt. Ein Kollege weigert sich, diese zu benutzen.

Die spontane Bewertung könnte lauten: Der ist eben technikfeindlich. Systemische Hypothesen hingegen öffnen durch andere Perspektiven einen neuen Möglichkeitsraum:

  • Vielleicht hat der Kollege die Sorge, seine bisherige Kompetenz verliert an Wert.
  • Oder er war schon einmal Teil eines IT-Projekts, das schlecht umgesetzt war, und er bringt daher Misstrauen mit.
  • Eventuell ist dieses Projekt für ihn auch nur ein weiteres, das ein Symbol genereller Entfremdung darstellt.

 

Stellen wir uns eine andere Situation vor: Die Projektleitung kritisiert immer wieder und öffentlich die Teammitglieder. Auch hier fällt eine spontane Bewertung leicht:  "Die hat eben kein Feingefühl."

Systemische Hypothesen können auch hier den Weg in eine andere Richtung weisen:

  • Vielleicht steht die Projektleitung unter enormem Druck, Kritik fungiert als das einzig möglich scheinendes Kontrollinstrument.
  • Vielleicht glaubt sie, im Sinne einer vernünftigen Transparenz für alle zu handeln.
  • Möglicherweise hat sie selbst nie erlebt, wie würdevoll Feedback wirken kann.

 

Unser dritter Fall führt uns zu Mitarbeitenden, die einfach nicht mitmachen wollen, sich nicht im Projektgeschehen involvieren. Wer bewertet, landet leicht bei: "Die sind einfach unmotiviert und träge“ und könnte dabei übersehen:

    • Vielleicht sind die Projektziele nicht klar kommuniziert. Daher ist eine Identifikation mit dem Projekt unmöglich.
    • Oder die Mitarbeitenden haben früher negative Erfahrungen mit Projekten gemacht und erwarten erneut Misserfolg, mit dem sie nicht identifiziert werden möchten.
    • Möglicherweise fehlt den Mitarbeitenden das Gefühl, dass ihre Beteiligung einen Unterschied macht oder gewünscht ist.
    • Eventuell gibt es implizite Anreize, sich nicht zu beteiligen (z. B. Loyalität zu einer vorherigen Projektidee oder Leitung)."

 

Auf alle Fallbeispiele trifft zu: Die Reihe der Hypothesen könnte fortgesetzt werden und immer neue Perspektiven kämen zum Vorschein. Bewertungen und Hypothesen sind handlungsleitend. In jedem Fall folgt eine andere Handlung auf eine Hypothese, als auf eine Bewertung. „Die sind eben faul“ impliziert keine wertschätzende Haltung und lässt keine Reaktion auf Augenhöhe erwarten. Wer hypothetisiert hat wiederum die Chance, z.B. Lücken in der eigenen Kommunikation zu entdecken („das Projektziel ist nicht klar kommuniziert“).

 

Wichtig ist: Eine Hypothese ist kein Urteil, sondern ein Angebot zur Reflexion. Sie darf verworfen oder weiterentwickelt werden. Mehrere Hypothesen nebeneinander zu stellen, kann besonders hilfreich sein, bevor eine Entscheidung für das darauffolgende Handeln fällt.

 

Tipps für die Praxis

  • Hypothesen nie als Fakten präsentieren. Denn sie sind keine Fakten.

Besser: Als Denkangebot formulieren.

  • Verschiedene Perspektiven einbeziehen: Wie würde ein Kunde, ein Kollege, ein stiller Beobachter die Situation beschreiben?

 

Fazit: Hypothesen schaffen Dialog statt Festlegungen

Systemisches Hypothetisieren ist ein wirkungsvolles Tool im Projekt- und Changemanagement. Es hilft, festgefahrene Sichtweisen zu öffnen, Gespräche zu erleichtern und neue Handlungsoptionen zu erschließen. Gerade in komplexen oder emotional aufgeladenen Situationen entfaltet es seine stärkste Wirkung. Wer systemisch denkt, fragt nicht: "Was ist richtig?" - sondern: "Was ist möglich?"

 

Weiterlesen & Anwenden:

  • Schulz von Thun, F. (Kommunikationspsychologie)
  • Arist von Schlippe & Jochen Schweitzer (Lehrbuch der systemischen Therapie)
  • Tools wie zirkuläres Fragen oder systemische Aufstellungen

 

Geben Sie einen Suchbegriff ein