Was uns eine Herde Gazellen und ein US Tech Unternehmen über Führung lehren

Impulse zum Thema Collaborative Project Leadership

Als Projektberatung blicken wir auf das Thema Führung durch die Linse des Projekts. Es geht also nicht um die klassische, disziplinarische Führung aus der Linie heraus, sondern um das Kollaborative, das Laterale – um das Führen „von der Seite“. Klassische Führungsaufgaben eines Projektleiters / einer Projektleiterin sind etwa: Ein motivierendes Umfeld erschaffen, Sicherheit geben und den Rahmen für eine produktive Zusammenarbeit schaffen. Klingt naheliegend und einfach? Wohl eher weniger. Denn wer sich schon einmal in der Praxis daran versucht hat, diese abstrakten Konzepte in konkrete Handlungen zu übersetzen, wird vielleicht festgestellt haben, dass es gar nicht so banal ist. Und wer in diesem Beitrag hofft, eine einfache Antwort zu finden, kann sich das Weiterlesen sparen. In einer komplexen Welt sind einfache Antworten rar. Dieser Beitrag soll vielmehr zum Nachdenken anregen und neue Impulse sowie Inspiration für die eigene Führungspraxis bereithalten. Beobachten wir dazu zunächst eine Herde Gazellen in der afrikanischen Savanne:

Die Gefahr aus der Savanne

Es hat schon etwas sehr friedvolles, erhabenes, eine Herde Gazellen in der afrikanischen Savanne beim Grasen zu beobachten. Zumindest ist es friedvoll, bis eines der Tiere eine Gefahr wittert. In der Welt der Gazellen kommen Gefahren meist in Form hungriger Löwen daher. Das heißt: Gefahren sind tödlich.

Wittert also eines der Tiere eine Gefahr, hebt es den Kopf, um die Ursache des raschelnden Grases ausfindig zu machen. Das wiederum alarmiert die umstehenden Tiere, die dann ebenfalls ihre Hälse recken, um der Sache auf den Grund zu gehen. Erhöhte Alarmbereitschaft, erhöhte Aufmerksamkeit, totale Konzentration auf die potenzielle Gefahr – der Körper schüttet den Botenstoff Cortisol aus. Entpuppt sich der erste Impuls als Fehlalarm, grast die Herde alsbald friedlich weiter. Wird der Löwe aber auch nur von einem der Tiere gesichtet, sprintet dieses los. Das ist das Zeichen für die Herde, sich so schnell es geht als Gemeinschaft in Sicherheit zu bringen. Manchmal hat der Löwe Erfolg und schafft es, sich ein Tier aus der Gruppe zu schnappen. Manchmal bleibt er hungrig zurück.

Wir Menschen sind wahrlich keine Gazellen. Und im normalen Büroalltag müssen wir auch keine hungrigen Löwen fürchten. Dennoch können wir hier parallelen in die Arbeitswelt ziehen. Denn bei Gefahr, schüttet unser Körper – wie bei den Gazellen – den Botenstoff Cortisol aus. Cortisol hilft uns in akuten Gefahrensituationen dabei, auf das Wesentliche, also auf das Überleben, zu konzentrieren. Für Unwesentliches, nicht auf das Überleben gerichtetes Handeln, ist dann schier kein Raum.

Kollektive Cortisol Ausschüttung und ihre Folgen

Man stelle sich die Arbeit in einem als unsicher wahrgenommenen Umfeld vor. Zum Beispiel, weil Gerüchte über eine große Reorganisation die Runde machen, über die Schließung von Standorten, über das vorzeitige Ende eines Projekts. Da die Evolution unseres Gehirns nicht so schnell vorangeschritten ist, wie der technische Fortschritt in dieser Welt, laufen in unseren Körpern immer noch dieselben Mechanismen wir zur Steinzeit ab, als wir Menschen Todesangst vor dem Säbelzahntiger haben mussten. Mit der Verbreitung verunsichernder Nachrichten kommt es zu einer Art kollektiver Cortisol Ausschüttung im Team, der Abteilung oder der Organisation, also zu einem erhöhten Stresslevel bei allen Beteiligten. Ein erhöhter Cortisolspiegel versetzt uns in Alarmbereitschaft und hilft uns, den Fokus auf die Gefahr zu richten. Das bedeutet gleichzeitig: Die Fähigkeit, sich auf Anderes als die potenzielle Gefahr zu konzentrieren sinkt genauso wie die Leistungsfähigkeit. Die eigentliche Arbeit, das Projekt- und Tagesgeschäft leiden – wie auch die Gesundheit der Kolleg:innen, denn dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauf- und andere potenziell lebensgefährliche Krankheiten. Und es gibt noch eine weitere Nebenwirkung: Cortisol verhindert die Ausschüttung von Oxytocin. Oxytocin wiederum ist die Substanz, die uns zu empathischen Menschen macht, die uns innige Beziehungen aufbauen und pflegen lässt. Permanenter Stress führt also kurz gesagt dazu, dass wir uns zu egoistischen Einzelgängern entwickeln, die sich weder um das Wohl der Organisation noch um das Wohl des Teams sorgen.

Wie schafft man Sicherheit?

Wer also gewollt oder ungewollt eine unsichere Arbeitsumgebung schafft, bekommt es mit unerfreulichen Nebenwirkungen zu tun: Erhöhtes Gesundheitsrisiko für die Mitarbeitenden, sinkende Produktivität und abnehmende Bindung an Organisation und Team. Sich explizit damit zu beschäftigen, wie es in der heutigen VUCA-Welt (das „U“ steht ja sogar für Unsicherheit) gelingen kann, für Sicherheit zu sorgen, sollte vor diesem Hintergrund allemal lohnenswert sein.

Wie also schafft man Sicherheit? Hierfür blicken wir zum US-amerikanischen Technologieunternehmen „Next Jump“.

Charlie Kim gründete das Unternehmen Next Jump 1994 noch als Student. Im Kern umfasst die Business Idee ein digitales Coupon-Geschäft für Einkaufsvergünstigungen. Noch vor der DotCom-Blase entstanden, konnte Kim nicht ahnen, was dem Unternehmen an Entwicklung bevorstand. Wachstum, Erfolge und Crashs, die die Kündigung fast der kompletten Belegschaft erforderte.

Über die Jahre beobachtete Kim bei den Mitarbeitenden immer um die Weihnachtszeit eine erhöhte Anspannung. Das war die Zeit, in der die Zahlen Auskunft über Erfolg- oder Misserfolg des Jahres bringen würden, in der über Einstellungen oder Entlassungen entschieden wurde. Und mit den Erfahrungen aus den Vorjahren im Gepäck, entschloss er, ganz grundlegend etwas zu ändern. In Familien, so sein Credo, setze man die eigenen Kinder schließlich auch nicht vor die Tür, nur weil es wirtschaftlich mal schlechter laufe. Und so führte er im Jahr 2012 die „no firing policy“ ein.

„Aside from increasing our hiring standards, this was a signal of intent for employees to show that you can expose vulnerabilities, weaknesses, and faults without the fear of losing your job.”

Tarun Gidoomal, Co-Managing Director, London Office

Niemand bei Next Jump sollte negative Konsequenzen fürchten müssen, wenn ihm oder ihr auch (schwerwiegende) Fehler unterlaufen. Vielmehr setzt Next Jump den Fokus auf die Entwicklung der Belegschaft – egal ob Buchhaltung oder Ingenieur, ob Programmierer oder CEO. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin in der Organisation durchlaufen Coachings und Weiterbildungen und gleichzeitig entwickeln sich die Kolleginnen und Kollegen gegenseitig weiter. Oder wie das unternehmensinterne Mantra nach einem Coaching mit dem Business Berater Simon Sinek lautet: „Better me + Better you = Better us“. So rückt an die Stelle der erhöhten Cortisol Ausschüttung in Phasen der Unsicherheit die verstärkte Oxytocin-Ausschüttung, weil eine angstfreie Umgebung die beste Voraussetzung dafür ist, enge Bindungen zueinander aufzubauen und gemeinsam erfolgreich sein zu wollen.

Side Fact: Next Jump arbeitet weiterhin sehr erfolgreich im Technologiesektor. Der Erfolg mit Blick auf die Entwicklung der eigenen Unternehmenskultur aber hat dazu geführt, dass die Organisation ein zweites Standbein aufgebaut hat und ihre eigenen Führungskonzepte in die Welt trägt.

Fazit für Projektleitende

Als Leiter:in eines Projekts kann ich gar nicht über die Hire oder Fire- Policy entscheiden. Ich kann qua Amt die Menschen nicht sanktionieren oder belohnen, wenn sie die vereinbarte Leistung nicht erbringen oder mehr als gefordert abliefern. Ich kann auch nicht darüber entscheiden, unternehmensweit sehr viel Geld in ein Entwicklungsprogramm der Kolleginnen und Kollegen zu investieren. Das ist alles richtig. Projektleitende können sich aber durchaus einmal auf das Gedankenspiel einlassen, was anders wäre, wenn sie wüssten, dass ihre Projektmitarbeitenden auf Lebenszeit mit an Bord wären. Welche Unterstützung würden sie ihnen im Rahmen des Möglichen zuteilwerden lassen? Welche Gespräche würden sie führen oder anders führen? Wie könnten sie versuchen, im eigenen Team eine sichere Umgebung zu erschaffen, die es ermöglicht, Vertrautheit und Bindung aufzubauen? Was könnten sie aktiv tun, um negativen Stress zu minimieren und dadurch die Leistungsfähigkeit im Team zu erhöhen? Eins ist klar: Sich hierüber Gedanken zu machen, daraus Aktionen abzuleiten, auszuprobieren, weiterzumachen oder zu verwerfen und etwas Neues auszuprobieren kostet Zeit. Zeit, die sich lohnt zu investieren, denn diese Zeit kommt in Form eines gesunden, funktionierenden und erfolgreichen Teams doppelt und dreifach wieder zurück.  

Buchtipp:

Ihnen hat gefallen, was Sie gelesen haben? Dann empfehlen wir für die weitere Lektüre

Simon Sinek: Gute Chefs essen zuletzt, 2014.

Wer mehr über Next Jump und seine Erfolgsgeschichte lesen will, kann das hier tun:

Culture spotlight: Next Jump, the company which never fires anyone for performance reasons (charliehr.com)

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