Buchtipp: Nancy Kline, Time to Think - oder: Wie unser Denken unsere Entscheidungen prägt – Teil 2
Wer die vorherige Ausgabe unserer News gelesen hat, erinnert sich vielleicht an den Buchtipp Time to Think von Nancy Kline. Die Autorin beschreibt in ihrem Werk eindrucksvoll: die Entscheidungen, die wir treffen, können nur so gut sein, wie der Denkprozess, der ihnen vorausgeht. Um einen guten Denkprozesse zu ermöglichen, präsentiert uns Nancy Kline zehn Komponenten, die ein optimales „Thinking Environment“ ermöglichen. Drei von ihnen hatten wir bereits vorgestellt. Hier folgen die nächsten Drei.
Wertschätzung (Appreciation) – Den Fokus auf das Positive lenken
Unser Gehirn ist evolutionär darauf programmiert, potenzielle Gefahren besonders aufmerksam wahrzunehmen. Zu einer Zeit, als der Säbelzahntiger hinter jedem Felsen lauern konnte, war das eine durchaus sinnvolle, da im Zweifel lebensrettende, Programmierung. Was aber passiert, wenn wir in einem Arbeitsumfeld tätig sind, das uns über ein diffuses Gefahrengefühl vermittelt, „hier musst Du auf der Hut sein“? Dann stellen wir – wie zu Steinzeitzeiten, um auf Flucht, Verteidigung oder Schockstarre. Egal, was am Ende die individuelle Strategie ist: Förderlich für ein konstruktives Miteinander und für den Unternehmenserfolg ist sie nicht. Nachweislich denken wir im Gefahrenmodus kurzfristiger, bewerten schneller und suchen nach Fehlern bei Anderen, um selbst unfehlbar zu wirken.
Nancy Kline betont, dass Wertschätzung diesen Mechanismus umkehrt, indem sie die Aufmerksamkeit bewusst auf Stärken und Potenziale lenkt. Aufrichtig gemeinte Wertschätzung erhöht die psychologische Sicherheit. Studien zu Teamdynamik, z.B. von Amy Edmondson, zeigen, dass Teams mit hoher psychologischer Sicherheit performanter sind.
Außerdem aktivieren positive Rückmeldungen in unserem Gehirn die Dopamin-Region. Das schafft Motivation, setzt Energie frei und spornt uns zu Höchstleistungen an. Wertschätzung ist also nicht nur nett gemeint, sondern steigert nachweislich die kognitive Leistungsfähigkeit.
Und was tun, wenn Fehler passieren? Muss das mit der Wertschätzung dann nicht ein Ende finden? Hier hilft eine konstruktive Fehlerkultur: Statt Fehler zu verdammen, erkennen wir durch Wertschätzung an, dass jedes Scheitern eine Lernchance ist. Dadurch sinkt die Angst, etwas Falsches zu sagen oder auszuprobieren, weil wir wissen, dass unser Beitrag an sich schon als wertvoll angesehen wird.
Praxistipps für mehr Wertschätzung
- Positives Framing als Ritual etablieren: Beginnt Meetings nicht mit einer Fehler- oder Problemdiagnose, sondern mit der Frage: „Nenne eine Sache, die in letzter Zeit gut gelaufen ist“ oder „Welchen Erfolg dürfen wir heute besonders hervorheben?“ Damit wird der Geist sofort auf Lösungen und Fortschritte ausgerichtet.
- 5-zu-1-Regel für Feedback: Für jede konstruktive Kritik sollten mindestens fünf wertschätzende Beobachtungen oder Anerkennungen ausgesprochen werden. Damit verhindert ihr, dass sich Einzelne angegriffen fühlen, stellt sicher, dass das Gesamtniveau der Motivation hoch bleibt und dass die konstruktive Rückmeldung in neues Verhalten münden kann.
- Individuelle Potenziale benennen: Statt allgemeiner Lob-Formulierungen („Gut gemacht!“) gebt möglichst konkrete Rückmeldungen („Ich schätze, wie du in der letzten Präsentation den Überblick behalten hast und komplexe Zahlen klar erklärt hast“). Das erhöht die Glaubwürdigkeit und hilft den Mitarbeitenden, genau zu wissen, welche ihrer Stärken geschätzt werden.
Ermutigung (Encouragement) – Den Mut zum eigenen Denken fördern
Auch wir bei Consensa können in jedem Workshop und in jedem Training beobachten, wie unterschiedlich sich Menschen verhalten. Manche bringen sich von Anfang an sehr aktiv ins Geschehen ein, andere nicht. Natürlich kommen hier auch unterschiedliche Persönlichkeiten zum Tragen. Aber manche Menschen befürchten auch - z.B. durch schlechte Vorerfahrungen, die sie gemacht haben, ihr Beitrag könnte lächerlich wirken, unwichtig oder weniger qualifiziert sein und auf Ablehnung stoßen. Diese Furcht führt dazu, dass wir nur an der Oberfläche dessen kratzen, was möglich wäre. Nancy Kline zeigt auf, dass Ermutigung - das bewusste Schaffen einer angstfreien Atmosphäre - zentral ist, um den Denkraum zu öffnen.
Wenn wir spüren, dass unsere Ideen nicht sofort bewertet und abgewertet werden, können wir uns erlauben, auch unsichere oder unvollständige Gedanken laut auszusprechen. Genau diese rohen Gedankengänge können später zu bahnbrechenden Lösungen führen.
Ermutigend wirkt auch, wenn Kollaboration über Konkurrenz steht: In einer Kultur der Ermutigung konkurrieren Teammitglieder nicht miteinander um „das beste“ Ergebnis, sondern unterstützen sich gegenseitig bei der Ideenentwicklung. Dieses Verhalten steht häufig im Widerspruch zu individuell vereinbarten Jahreszielen. Aber mit dem neuen Wissen, wie viel produktiver die Gesamtergebnisse eines Teams sein könnten, wenn es echte Kollaboration gäbe, ließen sich diese Jahresziele vielleicht einmal anders und neu denken.
Praxistipp für mehr Ermutigung
- „Keine Idee wird sofort verworfen“: Vereinbart zu Beginn eines Meetings, dass alle Beiträge erst einmal gesammelt werden, ohne sie direkt zu bewerten. Erst in einer zweiten Phase könnt ihr entscheiden, welche Ansätze vertieft werden.
- Ermutigende Sprache nutzen: Statt „Das wird nicht funktionieren“, sagt lieber: „Interessanter Ansatz – erzähl mir mehr darüber“ oder „Lass uns gemeinsam prüfen, wie wir diese Idee weiterdenken können“. Das signalisiert: Deine Idee ist es wert, untersucht zu werden.
- Explizites Lob für Risikobereitschaft: Wenn jemand eine provokative oder ungewöhnliche Frage stellt, gebt direkt Rückmeldung: „Danke, dass du uns auf diesen Gesichtspunkt aufmerksam machst. Genau solche Impulse brauchen wir.“ Das bestärkt alle Teilnehmenden darin, sich ebenfalls zu trauen, Risiko im Denken einzugehen.
Gefühle (Feelings) – Emotionen zulassen, um Blockaden zu lösen
Emotionen sind ein zentraler Bestandteil in unserem Denkprozess, der oft unterschätzt wird. Wer seine Gefühle unterdrückt oder sie als Störfaktor betrachtet, behindert den Zugang zu tieferem, intuitivem Wissen. Dasselbe gilt natürlich, wenn man die Gefühle bei anderen unterdrückt, indem man ihnen keinen Raum einräumt. Nancy Kline betont, dass ein Umfeld, das Emotionen zulässt und wertschätzt, Denkblockaden auflöst.
Wenn negative Gefühle (z. B. Angst, Frust oder Wut) unausgesprochen bleiben, binden sie mentale Ressourcen. Ein Bewusstsein dafür, was eine Person bewegt, schafft sofort Leichtigkeit im Denken. Eine „kognitive Last“ fällt von den Schultern und schafft Raum für Neues.
Oft haben wir eine diffuse Ahnung, dass eine bestimmte Entscheidung richtig ist, können sie aber nicht in Worte fassen, solange wir nicht die dahinterliegenden Gefühle anerkennen. Indem wir Emotionen zulassen, schaffen wir Raum dafür, dass Intuitionen nach oben steigen können. Und noch einen weiteren Vorteil bietet es, wenn im Team Gefühle offen thematisiert werden können: Engere Beziehungen entstehen, was wiederum Vertrauen ermöglicht, auch kontroverse Themen anzusprechen und konstruktiv zu bearbeiten.
Praxistipp für mehr Emotionen
- Emotionale Check-ins vor Meetings: Beginnt größere Gruppenrunden mit einer kurzen Runde, in der jede:r in einem Wort oder einem kurzen Satz ausdrückt, wie sie/er sich gerade fühlt („Heute bin ich neugierig“, „Ich bin etwas angespannt wegen der Deadlines“). Ohne direkt Lösungen anzubieten, wird so Raum geschaffen, dass jede:r wahrgenommen wird.
- Gefühle benennen, statt direkt zu problemorientierten Lösungen zu springen: Wenn jemand zögert oder besorgt wirkt, ist es hilfreich zu fragen: „Was bewegt dich gerade?“, anstatt sofort das Thema zügig weiterzuleiten. Damit signalisiert ihr: Deine Emotionen sind Teil des Denkprozesses, und wir nehmen sie ernst.
- Zuhören, ohne zu bewerten oder zu „reparieren“: Manchmal reicht ein kurzes „Ich sehe, dass dich das nachdenklich macht“ oder „Danke, dass du das Gefühl teilst“ aus, um den Druck zu nehmen. Erst in einem späteren Schritt hat dann wieder die Sachfrage Vorrang.